Lang vergessenes Grauen, würdige Erinnerung: Gedenkort in Rothenburgsort

Entwurf des Gedenkortes von Wolfgang Wiedey, wie er beim Feuersturmgedenken 2020 öffentlich im Haus der Jugend Rothenburgsort präsentiert und disktuiert wurde. Foto: Sonja Lattwesen

Wenn ein Antrag interfraktionell eingebracht wird, ist das an und für sich schon bemerkenswert, denn es bedeutet, dass trotz des Wettbewerbs der Parteien untereinander ein Thema einvernehmlich abgestimmt und mit gemeinsam getragenem Engagement vorangebracht werden soll. Im vorliegenden Fall geht es um die Errichtung eines Lern- und Gedenkorts im öffentlichen Raum, für den die Genehmigung zur Errichtung sowie deren Finanzierung beantragt werden. Auf diesem Wege wird ein jahrelanges bürgerschaftliches Engagement zur Geltung gebracht, das beharrlich dafür gearbeitet und gestritten hat, der Geschichte der Euthanasieopfer im Kinderkrankenhaus Rothenburgsort einen Platz im Gedenken Hamburgs an die Opfer des Nationalsozialismus zu verschaffen. 

Leser*innen dieses Beitrags werden vielleicht sagen: „Kinderkrankenhaus in Rothenburgsort“, nie davon gehört! Aber nicht selten gibt es noch jemanden in Hamburger Familien, der oder die in diesem Krankenhaus, das 1982 seinen Betrieb eingestellt hat, behandelt, vielleicht sogar dort geboren wurde. Bemerkenswert ist, dass dieses Krankenhaus, dessen Anfänge bis ins Jahr 1898 zurückreichen, von einem Verein als Träger betrieben wurde, den engagierte Bürger*innen gründeten, um die medizinische Versorgung in einem der damals bevölkerungsreichsten Stadtteile Hamburgs zu sichern. Und genau aus diesem Umstand resultiert auch schon ein Teil der Geschichte, denn Hamburg als Stadtstaat hat sich vor dem Hintergrund dieser Form der Trägerschaft zur Zeit des Nationalsozialismus nicht in gleichem Maße wie hinsichtlich der Heil- und Pflegeanstalt Langenhorn (heute Asklepios Klinik Nord – Ochsenzoll) an der Initiative zur Errichtung eines Gedenkortes beteiligt, obwohl das Kinderkrankenhaus Rothenburgsort wie auch die damalige der Heil- und Pflegeanstalt Langenhorn gleichermaßen im Nationalsozialismus sogenannte „Kinderfachabteilungen“ betrieben, in denen Säuglinge und Kleinkinder mit schweren Entwicklungsstörungen und Behinderungen im Rahmen des sogenannten Reichsausschussverfahrens ermordet wurden. 2011 hat die Landeszentrale für politische Bildung eine Broschüre zu Biographien von Menschen, für die im Stadtteil Rothenburgsort Stolpersteine verlegt sind, herausgebracht—erst mit dieser Publikation wird einer breiten Öffentlichkeit umfassend auch über dieses Verbrechen berichtet, denn es werden Biographien der Kinder und ihrer Familien dokumentiert, die bis dato identifizierten Opfer erhalten einen Namen und, so weit wie möglich, wird ihre und die Geschichte ihrer Familien erzählt. Hildegard Thevs, die Autorin, eine pensionierte Lehrerin, hat jahrelang für diese Publikation recherchiert, wie ein Artikel der Zeitschrift Hinz und Kunzt 2013 sehr eindrücklich in einem Kurzportrait berichtet.

Seit 2014 hat sich eine Arbeitsgruppe, die Carola Veit als SPD-Abgeordnete für Rothenburgsort ins Leben gerufen hat, und in der Hildegard Thevs als fachliche Beraterin und Anwältin der Opfer und ihrer Familien beteiligt war, um die Etablierung eines Gedenkortes auf dem Gelände des ehemaligen Kinderkrankenhauses bemüht, im ersten Anlauf vergebens, weil die jetzige Eigentümerin des Gebäudes, in dem das Hamburger Institut für Hygiene und Umwelt als Mieterin untergebracht ist, die Zustimmung letztlich versagt hat. Aber genau dieser Umstand hat nicht zur Resignation, sondern zu einem neuen Ansatz geführt, der hinter dem interfraktionellen Antrag steht. Möglich wurde dieser neue Ansatz nicht zuletzt durch neue Akteure, darunter auch Schüler*innen der Stadtteilschule Bergedorf, die 2019 kurzerhand einen temporären Gedenkort an der Stelle im Straßenbegleitgrün errichteten, an der nun auch der dauerhafte gemäß Antrag errichtet werden soll. Diese Schüler*innen wurden auf die ganze Geschichte im Unterricht durch die Auseinandersetzung mit einem Musical aufmerksam, das von einem 2016 nach Rothenburgsort zugezogenen Musical—Autor, Dirk Schattner, entwickelt wurde und 2018 Uraufführung feiern konnte.

Mittels einer Adaption haben die Schüler*innen sich das Geschehene anverwandelt, sie konnten als Nachgeborene unumwunden aussprechen, dass sie bis dahin „keine Ahnung“ hatten, und sich gerade deshalb als „neue Zeitzeugen“, wie sie sich nennen, dafür einsetzen, dass es nie wieder vergessen werden kann. Die Webseite zum Bertini-Preis, den diese Bergedorfer Schüler*innen 2019 erhalten haben, erzählt diesen Teil der Geschichte. Wenn der dauerhafte Gedenkort an Ort und Stelle errichtet sein wird, und das wird dank des Antrags ja nun absehbar der Fall sein, dann wird dieser Gedenkort hoffentlich nicht zuletzt auch wegen seiner langwierigen Entstehungsgeschichte, in deren Verlauf sich neben den geschichtlich Informierten viele weitere Akteure der Thematik angenommen haben, die Kraft entwickeln, Bewusstsein zu schaffen, Erinnern zu ermöglichen und Engagement für eine inklusive Gesellschaft zu entfachen – ganz konkret, hier und heute. Das Schicksal der Kinder, die im Kinderkrankenhaus Rothenburgsort vom medizinischen Personal im Dienste einer menschenverachtenden Ideologie ermordet wurden, ist Mahnung und Ansporn, dafür braucht es uns alle und wir alle brauchen diesen Gedenkort. 


Interfraktioneller Antrag im Hauptausschuss am 01.06.2021. Der Antrag wurde angenommen.