„Achtung – das Wasser kommt!“

Herbert Meyer war gerade mal 15 Jahre jung, als in Hamburg vor 60 Jahren die Deiche brachen. Damals lebte er mit seiner Familie in der Siebenbrüder Weide in Kirchdorf im südlichen Teil der Elbinsel Wilhelmsburg. Als Zeitzeuge hat er von seinen Erlebnissen berichtet.

Wann ist dir klar geworden, dass da eine außergewöhnliche Sturmflut auf Hamburg zukommt?

Der 16. Februar war ein ganz normaler Schultag. Man kriegte schon mit, dass Orkan angesagt war und dass es ein Hochwasser geben sollte, aber bewusst geworden ist mir das erst als ein Ruderfreund mir Bescheid gegeben hat, dass wir die Ruderboote in Sicherheit bringen sollen. Als wir über die alte Straßenbahnbrücke [Brücke des 17. Juni] über die Süderelbe gefahren sind, da klatschte das Wasser richtig auf die Fahrbahn. „Oh mein Gott“, dachte ich, so habe ich die Elbe noch nie gesehen!

Als ich dann am frühen Nachmittag wieder nach Hause geradelt bin, hat mein Großvater erzählt, dass in Stillhorn der Deich scheiße aussehen soll. Auch dort mussten wir noch mal hin zum Gucken – und genau an dieser Stelle ist der Deich dann später auch auf einer Länge von 20 oder 25 m gebrochen. Das Glück war, dass dort wo, heute Kirchdorf Süd ist, damals das Trabergestüt Schlatermund war und das Wasser einfach die Wiesen überspülte…

Wie hast du das Eindringen des Wassers erlebt?

Zunächst hatten wir das Gefühl, dass die Flut mit uns zu Hause gar nichts zu tun hat. Doch dann kam ein Nachbar die Siebenbrüder Weide runtergefahren und schrie: „Achtung, Achtung – Das Wasser kommt!“. [HW: An dieser Stelle würde ich den Cut machen, Rest auf die Homepage] Das Wasser lief langsam rein, wie wenn man an der Nordsee bei auflaufendem Wasser am Strand steht.

Ich habe dann angefangen unsere Karnickel, Hühner, Tauben, den Hund und die Katze einzufangen und in Sicherheit zu bringen. Die Hühner und die Tauben, die ich zusammen in den Taubenschlag sperrte, waren sich nicht ganz grün – aber was sollte man machen. (lacht) An der Hecke sah ich deutlich wie das Wasser immer weiter stieg, für uns gab es keine Gefahr für Leib und Leben, aber gespenstisch war es schon wie das Wasser unaufhaltsam immer weiter stieg. Am Ende hatten wir einen Wasserstand von mehr als 1,50 in der Wohnung. Zwar wurden wir vorher via Radio, Fernsehen und Durchsagen der Polizei gewarnt, aber dass das Wasser so hoch anstieg, hat uns alle wirklich überrascht!

Wo hast du dich vor den Wassermassen in Sicherheit gebracht?

Während ich die Tiere einfing, hatte meine Mutter, die immer sehr sachlich, bedacht und klug war, die wichtigsten Gegenstände aus dem Erdgeschoss in Sicherheit gebracht. Gemeinsam mit meiner Schwester mit ihrem drei Monate altem Baby, meinem kleinen Bruder, meinen Großeltern und zwei Töchter der Nachbarn warteten wir im 1. Stock unseres Hauses ab.

Und wie ging es dann weiter?

Das Wasser stand und bewegte sich einfach gar nicht mehr. So nach einer Woche lief das Wasser dann langsam ab. Kloake aus Kleingartenanlagen und Behelfswohnheimen war überall. Es wurden dann beim Bundesluftschutzverband, dem Vorläufer des Technischen Hilfswerks, Freiwillige gesucht, um Tote zu bergen. Ich habe – toitoitoi – nur einen Toten mitbekommen. Das war der erste Tote, den ich gesehen habe, aber zum Glück nur aus der Ferne. Aber viele, viele Hasen, Rehe und Kühe, die überall herumtrieben, haben wir rausgefischt. Später waren die Aufräumarbeiten dann aber komplett in Bundeswehrhand. Die jungen Soldaten fanden es schick mit ihren Flachbooten durch das 1,50 Meter tiefe Wasser zu donnern. Bald schon konnte man bei ihnen seinen Zettel abgeben und wurde dann mit dem Nötigsten beliefert.

Wie hast du die Aufräumarbeiten erlebt?

Als der Wasserstand irgendwann so auf 30 bis 40 cm gefallen war, sah man erst das ganze Ausmaß der Zerstörung und von Müll und Dreck. Dann hieß es auch, dass wir alle das Gebiet verlassen sollten, und die Jungs vom Seuchentrupp kamen in weißer Schutzmontur.

Schon nach wenigen Wochen gab es von anderen Ländern Einladungen für sogenannten „Frusturlaub“ oder „Katastrophenbewältigungsurlaub“ – ich war gleich in der ersten Tour mit dabei in Grenoble, später dann auch noch in Monaco und anderswo. Toll war, dass das mit der Solidarität und der Hilfe so schnell in Gange ging! Den Müll und das Aufräumen habe ich im Grunde gar nicht mehr so mitgekriegt.

Im Nachgang würde ich sagen, dass eigentlich vieles damals den Umständen entsprechend sehr gut gelaufen ist. Ich bin dafür, dass die Bundeswehr als „Bürgermilitär“ im Katastrophenfall auch im Inland eingesetzt werden kann, denn da wartet hoch qualifiziertes Personal, das die Logistik einfach beherrscht wie kein anderer nur darauf wartet, aktiv zu werden…

Wie fühlst du dich jetzt 60 Jahre nach der großen Flut?

Es hat sich ein bisschen was eingebrannt bei mir, aber das Ganze war für mich keine seelische Katastrophe. Tief beeindruckt hat mich, welche Kraft hinter den Wassermassen steckt. Damals sind knapp 400 Menschen ums Leben gekommen, etwa 100 davon hätten heute vom Alter her noch unter uns geweilt – deshalb ist es gut an sie zu erinnern. Und als Stadt Hamburg macht das Gedenken ohnehin Sinn, denn Hamburg ist eine Stadt, die abhängig ist vom Wetter, von den Gezeiten und vom Wasser.

Hat Hamburg aus den Erfahrungen von damals gelernt?

Ich fühle mich nicht unsicher in Hamburg, ich glaube Hamburg hat aus der Flutkatastrophe gelernt und den Hochwasserschutz gut ausgebaut. Doch es macht mich nachdenklich, warum sich die Menschheit jeden Tag aufs Neue zerstört und nicht entschiedener versucht das 1,5-Grad-Ziel zu erreichen, um weitere Naturkatastrophen abwenden zu können. Und auch gegen die Wohnungsarmut müsste entschlossener vorgegangen werden.

Das Interview führte Johanna Hansen, Newsletter-Redakteurin der GRÜNEN in Hamburg-Mitte